Das wichtigste Exportgut Englands: Pop!

Neil Tennant von den Pet Shop Boys sträubt sich gegen das Selbstmitleid alternder Popstars – lieber nimmt er noch ein elftes Album auf, ‘Elysium’. Im Interview erzählt er, warum die Zeit der Teenie-Hymnen für ihn vorbei ist und wie es sich anfühlt, Vorband von Take That zu sein.






SPIEGEL ONLINE: Mr. Tennant, die Pet Shop Boys sind seit rund drei Jahrzehnten als Band aktiv. Haben Sie überhaupt noch junge Fans?





Tennant: Eindeutig! Neulich wurde auf unserer Homepage mein Geburtstag bekanntgegeben. Da kamen viele Gruß-E-Mails, einige von 12- oder 16-Jährigen. Über die Plattensammlung der Eltern entdecken viele Kinder unsere Musik. Aber wir werden natürlich in dieser Zielgruppe kaum so punkten wie One Direction oder so.





SPIEGEL ONLINE: Werden die Pet Shop Boys noch mal einen Nummer-eins-Hit haben?





Tennant: Ich glaube nicht. Bei allem Krisengerede: Die Wahrheit ist, dass man für einen Platz in den englischen Single-Charts sehr viele Verkäufe braucht. Für eine Nummer eins sind das derzeit um die 200.000 Einheiten. Das schaffen wir wohl nicht mehr.





SPIEGEL ONLINE: Nun erscheint ‘Elysium’, Ihr elftes Album. Wie definieren Sie Erfolg?





Tennant: Pop kommt von populär, ein Nummer-eins-Hit ist immer der Traum. Immerhin waren wir gerade indirekt Nummer eins, weil ‘West End Girls’ auf einem Olympia-Sampler vertreten ist.





SPIEGEL ONLINE: Sie reichen regelmäßig eigene Songs weiter, die Ihnen nicht passend für ein Pet-Shop-Boys-Release erscheinen – an Künstler von Liza Minnelli bis Kylie Minogue. Wie definieren Sie den Pet-Shop-Boys-Stil?





Tennant: Wenn ein Song fertig ist, höre ich sofort, ob der zu uns passt. Dann taucht in meiner Phantasie vielleicht eine Teenager-Girl-Band aus der Karibik auf – etwas, das viel zu poppig und zu jung für uns ist. Neulich haben wir einen Song geschrieben, der wie eine R&B-Ballade von Rihanna klingt. Ich konnte mir das perfekt für sie vorstellen – sie vermutlich weniger. Meine Stimme ist jedenfalls zu dünn dafür. Auf der anderen Seite ist meine Art zu singen definitiv wichtig für unseren Sound. Egal, was ich singe, irgendjemand wird immer sagen: typisch Pet Shop Boys – auch wegen meiner Texte. Dazu kommen diese erhabenen, melancholischen Bässe, die Chris programmiert…





SPIEGEL ONLINE: Sind Sie und Ihr Partner Chris Lowe immer einer Meinung, was ein guter Pet-Shop-Boys-Song ist?





Tennant: Meistens. Aber wir haben beide ein Vetorecht. Zuletzt hat es einen Song namens ‘Hell’ erwischt: Alte Diktatoren, die sich in der Hölle unterhalten, unterlegt mit einer Art Balkan-Beat. Ich fand das wahnsinnig lustig. Chris leider nicht. Der Song sollte auf das neue Album, nun wird er wohl eine Single-B-Seite.





SPIEGEL ONLINE: Kann ein Song zu sehr nach Pet Shop Boys klingen?





Tennant: Wenn aus Melancholie und Sehnsucht Kitsch wird, ist es nicht mehr gut. Lustig ist auch, ‘Pet Shop Boys’ zu googeln. Jeden Tag taucht da eine andere obskure Band auf, die angeblich wie ‘die neuen Pet Shop Boys’ klingt. Ich höre mir die alle an und sehe da nie Gemeinsamkeiten. Meine Vorstellung vom Sound der Pet Shop Boys weicht wohl sehr von der vieler Hörer ab.





SPIEGEL ONLINE: Ihr neuer Song ‘Your Early Stuff’ handelt von betagten Popstars…





Tennant: Der Text besteht aus Sätzen, die ich mir von Londoner Taxifahrern anhören musste. So wie: ‘Machen Sie noch Musik?’, ‘Sie sind bekannt, wie heißen Sie noch mal?’ oder ‘Sie sind damals in den Achtzigern auch von den Plattenfirmen betrogen worden, oder?’. Meine Auswahl war riesig, denn ich fahre jeden Tag Taxi und werde doch sehr oft erkannt. Vor einigen Jahren fragte mich mal wieder jemand, wie ich so meinen Ruhestand verbringe. Ich habe ihm gesagt, dass er mich gerade zur ‘BBC’ fährt, wo ich bei ‘Top of the Pops’ auftrete. Und gefragt, ob er ab und zu noch mal sein Radio anmacht.





SPIEGEL ONLINE: Verletzt Sie das nie?





Tennant: Nein, ich kann mich gut wehren. Na gut, einmal habe ich mich nett mit einem Taxifahrer über die achtziger Jahre unterhalten. Als wir am Ziel waren, bedankte er sich für all die tollen ‘Frankie-Hits’. Ich sagte: ‘Wer bitte?’ – ‘Frankie Goes to Hollywood, Ihre Band’, antwortete er. Der hatte mich tatsächlich mit Holly Johnson verwechselt. Ja, da war ich fassungslos.





SPIEGEL ONLINE: Holly Johnson war mal in einer Punkband. Hat Ihnen Punk damals etwas bedeutet?





Tennant: Absolut. Ich war dankbar, dass die Songs wieder kürzer wurden, von zwanzig auf zwei Minuten schrumpften. Anfang 1976 war ich bei einem der ersten Konzerte der Sex Pistols. Und die waren viel besser als ihr Ruf, eine wirklich eindrucksvolle Liveband. Mal abgesehen davon, dass Sid Vicious jemanden aus dem Publikum verprügelt hat – ich glaube, es war der Musikkritiker Nick Kent. Das hat mich so sehr geschockt, dass ich fünf Jahre lang nicht mehr zu Konzerten gegangen bin.





SPIEGEL ONLINE: Wie surreal war es, im Vorprogramm von Take That aufzutreten?





Tennant: Wir hatten zuerst abgesagt, weil wir Konzerte bei Tageslicht hassen. Wir sind auch noch nie in einem Vorprogramm aufgetreten. Take That hat uns dann überredet, mit dem Argument, dass wir kein Vorprogramm seien, sondern ‘Special Guests’. Wie auch immer, wir haben mitgemacht. In London sind wir achtmal in der ausverkauften Wembley Arena aufgetreten – das hat es noch nie gegeben. Wir sind fast zwei Wochen lang an jedem Wochentag ins Stadion gefahren, so wie andere Leute ins Büro.





SPIEGEL ONLINE: Entwertet es letztlich die Popmusik, dass eigentlich jeder Song im Internet umsonst zu haben ist?





Tennant: Nein. Dass Pop noch von Bedeutung ist, haben doch gerade die Olympischen Spiele bewiesen. Die Attraktionen der Eröffnungsfeier und der Abschlusszeremonie: Alles Popstars. Das ist doch Englands einziges, weltweit wichtiges Exportgut: Pop!





SPIEGEL ONLINE: Hatten Sie schon mal das Gefühl, zu alt für einen Poptrend zu sein?





Tennant: Oh ja. Dieser ganze neue Akustik-Pop ist mir rätselhaft. Ed Sheeran zum Beispiel. Der ist in England mit sehr schlichten Songs sehr erfolgreich. Ich will gar nicht lästern, aber seine Musik ist mir einfach zu plump. Aber ehrlich gesagt höre ich seit zwei, drei Jahren auch nur noch sehr wenig Pop. Mir ist einfach die Begeisterung abhanden gekommen. Ich mag nur noch verspielte Elektro-Klänge und Neo-Klassik-Musiker wie Johan Johannson.





SPIEGEL ONLINE: In zwei Jahren werden Sie 60. Wie lange bleiben die Pet Shop Boys noch aktiv?





Tennant: Das Renteneintrittsalter in England liegt bei 67, da haben wir also noch ein wenig Zeit. Vergessen Sie nicht, dass Chris erst 52 ist. Da bleiben uns noch mindestens 15 Jahre.




Taken from: Der Spiegel
Interviewer: Christoph Dallach