Das Ende der Subkultur

Laut Pet Shop-Boy Neil Tennant mangelt es


vielen Musikern an Kreativität, dem Nachwuchs an


Konzepten und der Industrie an Verantwortung für


ihre Produkte




Die Popmusik der Gegenwart lebt von Extremen: Um heute erfolgreich zu sein, muss man entweder superhart oder superweich

sein – wer davon abweicht, wird mit Misserfolg bestraft. Für eine der wenigen Ausnahmen sorgen die britischen Pet Shop

Boys. Das Duo landete seit Mitte der 80er einen Welthit nach dem nächsten, trotzte Strömungen, Trends und Modeerscheinungen.

So auch mit ihrem gestern veröffentlichten Album ‘Release’, auf dem sie vom volltechnisierten Synthie-Sound der letzten

20 Jahre zum Gitarrenpop wechseln. Im Interview rechnet Sänger Neil Tennant mit der eigenen Vergangenheit, vor allem aber

mit jüngeren Kollegen ab.



Sie bezeichnen das neue Album ‘Release’ als das beste seit Jahren. Was macht Sie so sicher?



Es ist zweifellos ein gutes Album mit richtig guten Songs. Und weil wir diesmal nicht so viele Dance-Elemente verwendet

haben, konnten wir viele andere Stile und Rhythmen einbauen.



Und warum musste der Computer den Gitarren weichen?



Wir haben schon immer Gitarren benutzt, aber diesmal stehen sie halt mehr im Vordergrund, sind viel dominanter. Es war eine

ganz neue Art des Schreibens – wir konnten eine simple Rhythmus-Sektion mit Gitarre, Bass und Schlagzeug bilden und hinterher

die passenden Akkorde hinzufügen.



Also ein Bruch mit der Routine?



Nein, es war nur simpler als sonst. Wir mussten nicht ewig programmieren, sondern konnten einfach drauflos spielen. Außerdem

war es eine gute Entschuldigung für einen Shopping-Ausflug nach Newcastle, wo wir die Gitarren gekauft haben. Shoppen ist die

wichtigste Inspirationsquelle – die Grundlage für alles, was wir tun. Und es ist eine gute Entschuldigung, um sich aus dem

Studio abzusetzen. Jedesmal, wenn uns nichts einfällt, gehen wir einkaufen. Und übrigens: die ursprüngliche Idee war, ein

HipHop-lastiges Album zu machen.



Wie bitte?



Ja, das erkennt man noch an einem Track wie ‘e-Mail’. Das ist ein lupenreiner HipHop-Song, eben das einzige Überbleibsel der

Grundidee. Außerdem haben wir noch ein paar Dance-Tracks aufgenommen, die aber nicht auf dem Album gelandet sind, weil sie

nicht zu den übrigen Sachen passen. Die Leute erwarten von den Pet Shop Boys immer etwas ganz Bombastisches und Extravagantes,

aber genau das ist diesmal nicht der Fall. Auch wenn es sicherlich seine Momente hat – etwa in ‘Birthday Boy’ oder ‘Love Is A

Catastrophe’.



Verwandeln sich die Pet Shop Boys in eine Rockband?



Niemals! Es ist einfach ein neuer Ansatz – ein neues Handhaben der gleichen Technik, die wir immer verwenden. Und lange Zeit

war es ja auch so, dass Rockmusik unser erklärter Feind war. Die Pet Shop Boys haben gegen alles gekämpft, was aufgeblasen,

bombastisch und belanglos war. Aber das hat sich inzwischen geändert. Anno 2002 ist Rock nicht mehr der Feind – der Feind ist

durchgestylte Popmusik. Belangloser, oberflächlicher Müll.



Und woraus resultiert der?



Die Musikindustrie hat keine Ahnung, wie man Krisen managt. Sie versucht sich dadurch zu retten, indem sie belanglosen Mist

fürs Fernsehen produziert. Eben dieses ‘Popstars’-Zeug, dessen Marketing-Potenzial sie bis zum Letzten ausschöpfen, um so viele

Platten wie eben möglich zu verkaufen. Aber das hat bislang ja nicht wirklich geklappt. Die Industrie müsste ganz schnell

wirkliche neue Künstler aufbauen.



Aber alles, was sie tut, ist, weitere Peinlichkeiten wie Bro‘Sis unters Volk zu werfen…



Ja, und dafür muss es einen Grund geben, den ich bislang noch nicht verstanden habe. Obwohl: Es ist leichte Unterhaltung für Kids,

genau wie es früher die Monkees waren. Einige Plastik-Pop-Sachen sind eben gar nicht schlecht. Die Monkees waren toll, obwohl sie

ein Kunstprodukt waren. Und das lag daran, dass sie gute Songs und gute Songwriter hatten – zum Beispiel Carol King. Es wird immer

so ein Zeug geben. Das einzige, was ich daran nicht mag, ist diese blöde Popbiz-Mentalität. Schau dir nur die Auditions bei

‘Popstars’ an – da sitzt jemand am Klavier und die Mädels und Jungs trällern eine herzerweichende Ballade dazu. Das ist nicht

Pop – das ist Kabarett. Bei Popmusik geht es darum, sich auszudrücken und seine Generation zu definieren. Eben mittels Sound und

Stil. Es ist genau so, wie es Malcolm McLaren formuliert hat: ‘Bei Musik geht es um Sex, Stil und Rebellion.’ Dem kann ich nur

zustimmen.



Das klingt, als wäre der Musikkritiker in Ihnen noch aktiv.



So habe ich schon immer gedacht. Und ich war auch nie ein Musikkritiker – ich war ein Pop-Autor. Heute sind Popstars nicht mehr

richtig interessant, früher waren sie das definitiv. Aber heute haben sie keine Geschichten mehr. Sie haben kein Manifest, in dem

sie deutlich machen, was sie vorhaben, wie sie sich kleiden, was sie hassen, was sie lieben. Früher war das Standard. Bands wie

Human League oder Culture Club hatten ein exakt festgelegtes Konzept, einen Plan, an den sie sich auch hielten. Ich mag Popmusik,

aber nur, wenn sie kreativ ist. Und das war sie zuletzt in den 80er Jahren, als die Leute noch Fotografie, Film und Mode

miteinbezogen.



Wo sind die echten Charaktere abgeblieben?



Gute Frage. Ich schätze, es hat damit zu tun, dass die Dance-Musik der späten 80er zwar viele gute Platten hervorgebracht hat,

aber eben nichts Kreatives. Es wurde einfach nur eine Unterhaltungsmaschine aufgebaut, die überall auf der Welt vertreten ist –

in Moskau genauso wie in Boulder/Colorado. Gleichzeitig profitieren davon aber nur ganz wenige, ausgesuchte Künstler, bei denen

dieses Netz wirklich greift. In den 80ern waren britische Popstars auf der ganzen Welt erfolgreich – doch die Zeiten sind definitiv

vorbei.



Trotzdem gibt es auf ‘Release’ einen Track wie ‘The Samurai In Autumn’ mit billigen Synthie-Sounds im Stil der 80er Jahre.



Das sind eher billige Keyboards aus den 90ern – und es ist der einzige Track der Platte, der Elemente aus der Dance-Musik aufgreift.

Dabei klingt er für mich eher nach Trance als nach den 80ern. Gott bewahre! Von dem 80er Jahre-Zeug sind wir längst runter. Wir

verwenden jede Menge Filter, die erst in den 90ern entwickelt wurden.



Der Song ‘Birthday Boy’ erinnert dagegen an Pink Floyd – eine Art Mini-Oper.



Genau das ist er auch – er ist exakt so aufgebaut. Und deswegen hat er auch starke Soundeffekte, wie wir sie immer verwendet

haben. Etwa im Intro zu ‘West End Girls’, das in unserem neuen Live-Set direkt auf ‘Birthday Boy’ folgt. Das hört mit den

Klängen der Straße zur Weihnachtszeit auf, und dann kommt ‘West End Girls’, wo plötzlich richtig etwas los ist.



Sie haben unlängst einen Showcase in Köln gespielt und sich dabei ohne theatralische Performance präsentiert. Sind das die

neuen Pet Shop Boys?



Nicht wirklich. Zumindest das Licht war doch sehr extravagant. Und wir versuchen, das Ganze zu einer anderen Form von Theater

auszubauen. Deswegen hatten wir zum Beispiel einen ganz weißen Bühnenboden – um all das Equipment und die Technik zu betonen,

was ich großartig finde. Genau wie die Tatsache, dass einige Stücke nahtlos in die nächsten übergingen, es viele Gitarrenwechsel

gab und auch sonst viel passierte. Es ist definitiv eine Show, und die werden wir konsequent ausbauen.

Taken from: Sächsische Zeitung
Interviewer: Marcel Anders