Coolness ist lähmend

Auf ihrem neuen Album Release entdecken die


Pet Shop Boys ihre Vorliebe für die von ihnen


bisher verabscheute Rockmusik, für sensible


Singer/Songwriter-Vibes, für melancholische


Gitarrenballaden und Eminem!




Als die Pet Shop Boys im Februar im Londoner Astoria spielten, herrschte auffällige Unauffälligkeit: Zunächst einmal

trugen sie keine Kostüme, sie waren ganz in Zivil, und ohne Schminke sieht Neil Tennant heutzutage schon mehr wie ein

würdiger Herr mittleren Alters aus als wie ein Popstar. Aber das ist nur scheinbar ein Paradoxon, denn natürlich ist

er beides zugleich. Der neben Neil Tennant aufgestellte Notenständer mit Leselicht (!) versprühte in Verbindung mit

der geschulterten akustischen Gitarre die gesetzten Vibes einer VH1-Storyteller-Show. Hinter Tennant und seinem Partner

Chris Lowe spielten sich zwei Gitarristen die Seele aus dem Leib – ein Novum für die Pet Shop Boys, die alles, was nach

Rock aussah, bisher mieden wie der Leibhaftige das Weihwasser. Aber wie Neil Tennant später beim Interview zurecht hervorhebt,

standen daneben auch noch ein paar gänzlich unrockige Computer auf der Bühne: ‘An unserer Live-Show ist immer noch viel

programmiert. Wir haben eine Percussionistin, aber keinen Schlagzeuger, da würde ich dann doch Einspruch erheben.’



Ein gewisses dramatisches Element muss bei den Pet Shop Boys ohnehin immer vorhanden sein. Und wenn sie – bis auf ein paar

Jalousien und Scheinwerfer – ganz ohne Dekoration auf der Bühne stehen, dann wirkt das eben wie ein Stück zeitgenössischen

Minimalismus im Gegensatz zum barocken Überschwang, den sie etwa noch auf ihrer letzten Tournee anlässlich des Nightlife’-Albums

demonstrierten. Aber es ist immer noch Show. ‘Unsere Auftritte haben immer viel mit Theater zu tun,’ bestätigt Tennant,

und das ist bei der neuen Show nicht anders. Es gefällt uns zum Beispiel, wenn die Gitarristen zwischen ihren Songs die

Instrumente wechseln. Wir versuchten das unserem Gitarrenroadie zu erklären. Wir sagten: ‚Ist das nicht großartig, wie

die sich die Gitarren umhängen, ist das nicht höchst theatralisch?” ‘Er sah uns an, als wären wir verrückt,’ grinst Chris

Lowe, die schweigsamere Hälfte der Pet Shop Boys. Tennant setzt fort: ‘Und ich sagte zu Chris: ‚Der ist ein Gitarrenroadie,

weißt du, der macht das jeden Abend.”



Natürlich hat die optische Umsetzung, wie alles bei den Pet Shop Boys, ihre genau durchdachte Bedeutung. und die Neue

Sachlichkeit der aktuellen Bühnenshow verläuft parallel zur musikalischen Entwicklung: ‚Release’, das neue Album der

gereiften Boys, kommt vom Sound her erstaunlich nahe an traditionelle Songwriter-Ästhetik heran. Ein Schritt, den Neil

Tennant logisch zu erklären weiß, ohne sich des Verrats an seinen alten Ideen schuldig zu machen: ‘Die ursprüngliche Pet

Shop Boys-Idee war, Musik zu machen, die vom Dance inspiriert war, aber mit Texten, wie man sie sonst nur auf Rock- oder

New Wave-Platten finden konnte. Das haben wir mittlerweile durchgespielt. Es war nun an der Zeit, ein wenig persönlicher

zu werden und mehr Geschichten zu erzählen.’



Und die Geschichten, die da erzählt werden, sind die zartere Behandlung ohne stampfenden Beat tatsächlich wert. ‘London’

zum Beispiel ist ein berührender Song über zwei russische Deserteure, die versuchen, sich in der englischen Metropole mit

Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. ‘Die Russen haben meiner Erfahrung nach einen sehr starken Sinn für Ironie,’

erklärt Tennant, ‚und deswegen sagt der Typ im Song: ‚Wir suchen nach harter Arbeit oder Kreditkartenschwindel. Was habt

ihr euch von uns anderes erwartet? Wir sind aus dem Ausland.’ Das ist natürlich eine satirische Anspielung auf die Vorurteile

der Engländer gegenüber Asylwerbern. Wann immer ich in Russland bin, fällt: mir auf, dass die Leute dort ein sehr schweres

Leben führen. Ich kenne Russen, die hungern müssen, nur um es sich leisten können einmal auszugehen und Spaß zu haben.’



Die Musik der Pet Shop Boys hatte immer schon einen starken melancholischen Kern, aber nur selten kam dieser Aspekt so

stark zum Tragen wie auf ‘Release’. Ein Song namens ‘E-Mail’ beginnt etwa mit einem Zitat der Akkord folge von ‘West End

Girls’ und biegt danach in Richtung einer herzzerreißenden Gitarrenballade – ein Moment, der sich als eine Art musikalische

Metapher für die Stoßrichtung des gesamten Albums verstehen lässt. ‘Ich spiele Gitarre, seit ich zwölf war,’ bekennt Neil

Tennant, ‘und ich habe oft meine Songs darauf geschrieben, die wir dann im Studio auf dem Keyboard nachspielten. Aber bei

den Aufnahmen zu diesem Album fragte Chris mich immer, warum ich denn nicht Gitarre spielte. Das überraschte mich, weil die

Gitarre eigentlich immer aus dem Studio verbannt war.’



Neil und Chris fuhren also von ihrem Studio in der nordost-englischen Einschicht hinüber ins nahe gelegene Newcastle und

kauften gleich drei neue Gitarren. ‚Ich spielte alle meine Parts ein,’ setzt Neil fort, ‚und wir wollten’s zunächst so

lassen, aber ich dachte immer: Die Gitarren könnten besser sein. Ich kann zwar jeden Akkord spielen, aber ich bin kein

brillanter, ja nicht einmal ein guter Gitarrist.’ In einem Mastering Studio in London liefen die Pet Shop Boys ihrem alten

Freund Johnny Marr über den Weg und überredeten ihn, seine Gitarristenkünste über ihr neues Album zu verteilen. Dankenswerterweise

blieb Marr in seinen Parts dabei sparsam und unaufdringlich genug, um die stellenweise tragischen, manchmal aber auch hochgradig

amüsanten Texte nicht zu übertönen – siehe zum Beispiel ‘The Night Fell in Love’, die Geschichte zwischen der homoerotischen

Begegnung eines Fans mit einem berühmten Rapper: ‘Während wir so am Schreiben waren, gab es diese Kontroversen um die mutmaßliche

Homophobie Eminems und die Tatsache, dass er zusammen mit Elton John bei den Grammy Awards ein Duett sang,’ erzählt Tennant,

‘wir mochten beide Alben von Eminem. Seine Beziehung zur Homosexualität ist sehr interessant ‚ Stan ist ein schwules Liebeslied

aus der Perspektive eines obsessiven Fans, der mit seinem Idol schlafen will Und auf der anderen Seite hat Eminem dann noch all

diese anderen, homophoben Texte. Ich glaube ihm, wenn er sagt, dass er dabei nicht als er selbst spricht, sondern als die

Stimme des homophoben Amerika. Seit David Bowie hat niemand mehr Rollen in seiner Musik verkörpert als Eminem. Und ich hatte

nun für mich selbst die Idee, die Rolle eines Jungen zu spielen, der nach Manchester fährt, um sich ein Rap-Konzert anzusehen.

Nachdem er sich in den Backstage-Bereich geschmuggelt hat, stellt er zu seiner Überraschung fest, dass dieser Rapper mit ihm

schlafen will. Die Handlung basiert auf Eminem, aber ich will natürlich nicht behaupten, dass er schwul sei. Ich habe nur

seine Methode verwendet. Ich stellte mir also vor, dass dieser Junge mit einem Rap-Star schläft. Und am nächsten Tag muss

er wieder ganz normal zur Schule gehen.’



Zweifellos eine grandiose Idee für einen Popsong. Aber Neil Tennant hat nicht nur ein Ohr für Songs, Pop ist immer noch seine

ganze Leidenschaft, mit oder ohne Gitarren: ‘Die Pop versus Rock-Diskussion ist nicht mehr relevant. Stattdessen tobt jetzt

ein Kampf der Kreativität gegen den Industriemüll, und der zieht sich durch alte Formate. Es gibt ein ganzes Genre von

Rockmusik, die auch nur Industrieschleife ist. Wie sagen sie doch gleich dazu? Nu-Metal? Das ist noch formelhafter als

Stock Aitken Waterman.’ Die britische Popmusik, meint Tennant, habe ein historisches Tief erreicht. Alle wollten nur ‘ganz

offensichtlich cool sein, bis sie ganz mit dem Background verschmelzen. Coolness ist lähmend.’ Niemand habe mehr die Ambition,

einen Text wie ‘The Night I Fell In Love’ zu schreiben. Und natürlich hat Tennant damit schlicht und einfach recht. Die Welt

braucht die Pet Shop Boys. Immer noch und mehr denn je.

Taken from: NOW Magazin
Interviewer: Robert Rotifer