Berlin ist normalisiert worden

Der Musiker Neil Tennant, eine Hälfte des Popduos Pet Shop Boys,


sprach mit Spiegel Online über die Faszination des alten und


des neuen Berlins und die britische Wahrnehmung der deutschen Hauptstadt.




Spiegel Online: Mister Tennant, wann waren Sie zum ersten Mal in Berlin?


Neil Tennant: Das war 1987. Unsere Plattenfirma flog uns nach Berlin ein, damit wir ein Konzert von David Bowie

besuchen konnten, das direkt an der Mauer stattfand. Unser erstes Ziel war Checkpoint Charlie. Dort überquerten

wir die Grenze nach Ostberlin. Ich erinnere mich noch, es war ein Samstagnachmittag – und alles war unheimlich

ruhig.



Spiegel Online: Hielten Sie sich noch ein wenig im Osten auf?


Tennant: Wir nahmen die U-Bahn zum Alexanderplatz. Der Name schien uns einigermaßen berühmt zu sein – aufgrund

des Filmtitels. Von dort spazierten wir Unter den Linden zurück Richtung Grenze. Der Kontrast zwischen dem

hektischem Westen und dem kontemplativen Osten hätte nicht größer sein können. Seit damals fasziniert mich die

ostdeutsche Vergangenheit Berlins – aber auch die anderen Kontraste in der Stadt. Jedes Gebäude wirkt politisch.



Spiegel Online: Was für ein Bild haben Ihre Landsleute von Berlin?


Tennant: In Großbritannien hat Berlin ein Image, das hauptsächlich vom Film ‘Cabaret’, David Bowie und Depeche

Mode geprägt ist. Es ist interessant, dass viele ein Berlin vor Augen haben, das die göttliche Dekadenz der

Weimarer Republik feiert.



Spiegel Online: Warum suchen Menschen das romantische Ideal der 1920er?


Tennant: Weil es eine so kraftvolle Idee war. Wir fanden Dekadenz ungeheuer anziehend – besonders in den Siebzigern,

als ich in meinen Zwanzigern war. Wir versuchten so dekadent wie möglich zu sein. Die Vorstellung der sexuellen

Freiheit im Berlin der Weimar-Zeit, über die der Schriftsteller Christopher Isherwood schrieb, errang damals wieder

neuen Ruhm.



Spiegel Online: Die Mauer scheint demnach keine so große Bedeutung für das britische Bild Berlins gehabt zu haben?


Tennant: Doch, sie formte ein völlig gegensätzliches Bild der Stadt. Eine Stadt, die unter Spannung stand. Man

hatte den Eindruck, alles würde im Schatten ablaufen. Das spiegelte sich in den Liedern David Bowies wieder.



Spiegel Online: Gefiel Ihnen dieses Image?


Tennant: Absolut. Ich hatte viele englische Freunde, die damals nach Berlin zogen. Es war, als ob man freiwillig

ins Exil ging. Hier war man isoliert vom Rest der Welt. Das gab Berlin die Aura, ein mythologischer und mysteriöser

Ort zugleich zu sein.



Spiegel Online: Glauben Sie, dass die Mixtur aus Kommunismus und Kapitalismus die Stadt heute zu etwas Besonderem macht?


Tennant: Nein, da ist für mich zu wenig Potenzial vorhanden. In anderen Ländern können Sie das viel besser beobachten.



Spiegel Online: Da Sie sich für die ostdeutsche Vergangenheit interessieren – was halten Sie von dem Film ‘Goodbye, Lenin’?


Tennant: Er hat mir sehr gut gefallen. Eine sehr anrührende Geschichte. Ich bin mehr und mehr fasziniert von der

Zeit vor dem Umbruch. In ganz Osteuropa. Millionen Menschen gaben vor etwas zu tun, was sie im tiefsten Inneren verachteten.

Letzte Woche besuchte ich das Museum für Kommunismus in Prag. Dort konnte man sich nach dem Krieg nicht die Renovierung der

Altstadt leisten, weil man das gesamte Geld für die weltgrößte Stalin-Statue ausgab. Man benötigte neun Jahre, um sie zu

bauen – eine übrigens gar nicht mal so schlechte Statue – aber als sie fertig war, starb Stalin. Bald darauf wurde seine

Statue zerstört. Dieses hohe Niveau von Verrücktheit, das dort mit hineinspielt!



Spiegel Online: Wie hat Ihnen denn die aktuelle Ausstellung über DDR-Kunst in der Neuen Nationalgalerie Berlin gefallen?


Tennant: Ich war ziemlich enttäuscht. Mir schwebte eine Ausstellung über sozialistischen Realismus vor, den ich äußerst

spannend finde – allein aufgrund der Frage, ob die Künstler daran glaubten oder nicht. Aber was es zu sehen gab, war Kunst,

die oft nicht von oben abgesegnet war. Das war mehr oder weniger eine Interpretation derselben Kunst wie in Westdeutschland.



Spiegel Online: Verstehen Sie das wachsende Interesse an DDR-Kunst?


Tennant: Natürlich, die offizielle Kultur unterschied sich von der westlichen sehr deutlich. Das fand in der Ausstellung

aber gar nicht statt. Was man dort sah, hätte auch aus dem Westen kommen können. Letztes Jahr sah ich einige Gemälde des

sozialistischen Realismus, die ungeheuer kraftvoll auf den Betrachter wirkten. Das wird heute schnell als Kitsch abgeschrieben,

aber meiner Meinung macht man es sich zu einfach mit so einer Einschätzung.



Spiegel Online: Glauben Sie, Berlin lebt von dem Ruf seiner zerstörten Vergangenheit?


Tennant: Vielleicht ein wenig. Aber noch stärker scheint mir der Eindruck, mit welcher Geschwindigkeit die Stadt wieder

aufgebaut wird. Jedes Mal, wenn wir nach Berlin kommen, bemerken wir etwas Neues. Als wir vorhin über den Alexanderplatz

schlenderten, erinnerte ich mich wieder, dass er in den frühen Neunzigern hauptsächlich von Skinheads und großen Hunden

bevölkert schien.



Spiegel Online: Heute sind es Punks und große Hunde.


Tennant: Wirklich? Auf mich machte er den Eindruck eines normalen Platzes. Vielleicht tauchen die Punks ja erst nachts auf.



Spiegel Online: Womit wir beim Nachtleben sind – hatten Sie die Möglichkeit, die Club-Szene vor Ort kennen zu lernen?


Tennant: Nicht sehr. Ich mag die Clubs in Berlin nicht. Sie wirken immer so cool. In den frühen Neunzigern gingen wir

gerne in den ‘Tresor’, aber heute bevorzuge ich Bars.




Das britische Duo Pet Shop Boys (‘West End Girls’) gehört


zu den erfolgreichsten Popgruppen der achtziger und neunziger


Jahre. In ihrer unlängst veröffentlichten Greatest-Hits-Kollektion


‘Pop Art’ präsentieren Sänger Neil Tennant, 49, und Keyboarder


Chris Lowe, 44, die Höhepunkte ihrer zwanzigjährigen Karriere.


Für die Aufnahmen zum letzten Studioalbum ‘Release’ und zur


neuen Single ‘Miracles’ arbeiteten Tennant und Lowe in Berlin


mit dem Produzenten Chris Zippel zusammen.




Spiegel Online: Wie klingt der typische Berlin-Sound in der Popmusik?


Tennant: Wissen Sie, ich dachte Tomcraft sei aus Berlin – und er kommt aus Stuttgart. Es gibt einen bestimmten deutschen Sound,

der in der elektronischen Musik dominant ist. DJ Hell würde ich als Beispiel nennen.



Spiegel Online: In der britischen Presse werden Peaches und Miss Kittin als typische Berliner abgefeiert. Beide stammen

ursprünglich aus anderen Ländern.



Tennant: Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, eine von ihnen mit Berlin in Verbindung zu bringen. Deren Musik klingt

für mich international. Das ist ein Sound, den man unter ‘Electro Clash’ subsummieren könnte. In London ist das momentan

sehr populär.



Spiegel Online: Wie sehen Sie Berlin heute?


Tennant: Man hat den Eindruck, jemand hat das Licht angemacht. Das Geheimnisvolle der Stadt ist verschwunden. Berlin ist

normalisiert worden.

Taken from: Spiegel Online
Interviewer: Ulf Lippitz