Auf die Oberfläche kommt es an: Chris Lowe

Mit seinem zehnten Album ‘Yes’ feiert das britische Duo Pet Shop Boys wieder die große Faszinationskraft des Pop. Nacheinander sprachen wir mit Neil Tennant und Chris Lowe über Kunst, Verkleidungszwänge und Kreativitätsschübe beim Shoppen.




Wie bei einer Stafettenübergabe wird Tennant von seinem Partner Chris Lowe, 49, abgelöst. Dessen Körpersprache ist weit weniger exaltiert, in Sportbekleidung betritt er den Raum, locker lässt er sich in seinen Drehstuhl plumpsen. Unterschiedlicher könnten die beiden Protagonisten kaum sein.




Welt am Sonntag: Mr Lowe, Ihr Kollege Neil Tennant sagt, dass der Schlüssel zum Universum der Pet Shop Boys im Minimalismus läge. Teilen Sie seine Meinung?




Chris Lowe: Selbstverständlich. Schon unsere erste Schallplattenhülle bestach durch ihre Reduktion. Sie war schneeweiß, in der Mitte gab es ein klitzekleines Foto von uns beiden in weißen Bademänteln, darunter standen zwei Zeilen Text: erste Zeile ‘pet shop boys’, zweite Zeile ‘please’. Weniger geht nicht. Ich habe in den frühen Achtzigern Architektur studiert – Mies van der Rohe, Le Corbusier, Bauhaus. Wir haben uns mit der Moderne beschäftigt. Wir beide vertreten die Auffassung, wonach jedes Element, sei es in der Architektur, in der Kunst oder in der Musik, sich selbst rechtfertigen können muss. Es muss einen Grund geben, weshalb an einer Stelle ein Foto und an einer anderen eine Schriftzeile steht. Und zwar am besten in der Schriftart Helvetica.




Leben Sie auch privat nach der Philosophie des Minimalismus?




Lowe: Ich habe mein Haus minimalistisch eingerichtet. Das Schöne an einer minimalistischen Innenarchitektur ist, dass sie bis ins Letzte durchdacht sein muss. In einem leeren Raum stören herumliegende Dinge. Sie müssen also das Aufbewahrungsproblem lösen, indem Sie Schränke, Schubladen, Fächer und Kästen unsichtbar machen. Sie werden bestraft, wenn Sie keine harte Disziplin an den Tag legen. Sie können diesen Gedanken eins zu eins auf Minimal Music übertragen: Jeder überflüssige Ton fällt nicht bloß auf, er stört.




Aber die Pet Shop Boys machen doch keine Minimal Music!




Lowe: Nein, absolut nicht. Und ganz sicher sind wir keine Designer, sondern Musiker.




Dennoch: Gehen Sie mit einer Grundidee an ein Album heran, so wie ein Designer eine Grundidee haben muss, um dann eine Form zu finden?




Lowe: Ja, hell und strahlend sollte unser neues Album ausfallen. Und wir wollten niemanden ausschließen, alle sollen es hören können. Manchmal reichen wenige solcher Stichworte, und wir beide wissen, in welche Richtung wir gehen werden. Wir sind ja schon so lange Zeit gemeinsame Wege gegangen, dass wir von – da haben Sie’s! – minimalistischen Konzepte ausgehen können und trotzdem beide wissen, was der andere meint. Einer sagt ‘optimistisch’, der Nächste sagt ‘yes’ – und schon haben Sie die Grundzüge unseres neuen Albums.




Wie wichtig sind Image, Verpackung und Stil im Vergleich zur Musik?




Lowe: Es sind zwei grundverschiedene Dinge. Die Musik entsteht bei uns immer zuerst und gänzlich unabhängig von allen visuellen Ideen. Die kommen später und sind dann auch genauso wichtig. Aber es gibt immer eine zeitliche Abfolge. Wir sind uns sehr bewusst darüber, dass Bilder mehr sagen als tausend Worte. Also muss man auch größte Sorgfalt in jede Form der Inszenierung legen. Zum Beispiel sind uns in den letzten 27 Jahren immer wieder Gestaltungsideen beim Shoppen gekommen.




Beim Shoppen?!




Lowe: Wir hatten mit unserer ersten Single einen Welthit. Um unsere Karriere anzuschieben, sind wir dann überall hin geflogen. Als junge Männer verbrachten wir viel Zeit in Tokio und Mailand, New York, London und Paris. Immer und ständig wurden wir fotografiert. Schnell wurde uns bewusst, dass wir uns immerfort auf Zeitreise befanden: Was wir in Yokohama kaufen konnten, kannte man in London noch nicht. Was wir in den Boutiquen von Los Angeles toll fanden, hatte man in Berlin noch nicht gesehen. Wir begannen, uns in zukünftigen Outfits vorzustellen. Uns faszinierte die Idee, dass wir in den Augen der Europäer einen Trend der Zukunft vertraten, wenn wir Brillen aus Tokio trugen und Overalls aus Kobe. Wir achteten darauf, dass wir auf Fotos auf diese Weise zusammengestellte Kleidung trugen. Wir dachten in Fotografie.




Sie reden in der Vergangenheit?




Lowe: Der Fokus verschob sich im Lauf der Jahre. Immer mehr rückte das Theatralische in den Vordergrund. Das geht vermutlich jedem so, der ein so schnelles und mediales Leben führt wie wir: Bald langweilen gleichartige Abläufe. Man will Veränderung. Die fanden in der theatralisch überzeichneten Stilisierung unserer beider Persönlichkeiten statt.




Der Simpsons-Erfinder Matt Groening sagt, dass für die Wiedererkennbarkeit einer Comicfigur die Silhouette der Schlüssel sei.




Lowe: Sehr kluge Beobachtung! Wir haben unsere Köpfe als an Skulpturen des Futuristen Renato Bertelli erinnernde, rotierende Silhouetten im Video zu ‘Liberation’ durch das Bild fliegen lassen. Im Video zu ‘Go West’ trugen wir bunte Hüte in Form halbierter Kugeln.




Warum haben Sie eigentlich nie mit Jean-Paul Goude zusammengearbeitet?




Lowe: Keine Ahnung. Dabei waren seine ‘One Man Show’-Videos, die er für Grace Jones gedreht hat, ganz und gar kompatibel zu den Pet Shop Boys und ein großer Einfluss auf unsere Arbeit. Vielleicht deshalb. Weil es zu nahe lag. Dafür sind wir von Robert Mapplethorpe fotografiert worden, und Bruce Weber hat drei Videos für die Pet Shop Boys gedreht. Wir haben mit Derek Jarman zusammengearbeitet. Wir haben immer die Nähe zur Kunst gesucht.




Man könnte auch sagen: Sie haben die Nähe zu berühmten Künstlern gesucht.




Lowe: Ganz ehrlich?




Bitte!




Lowe: Wir sind Fans. Wir wollten immer David Bowie treffen, und dann klappte es plötzlich, als wir mit ihm den Song ‘Hello Spaceboy’ einspielten. Plötzlich stehst du mit ihm im Studio und auf der Bühne der Brit Awards, und das Surreale wird zur Normalität. Ich habe es einem Freund mal zu erklären versucht. Ich sagte ihm: Es ist, als ob du in den Fernseher hineinkletterst und dich plötzlich selbst auf der Mattscheibe siehst. Absolut jenseits. Und genauso wollten wir all die anderen einmal in unserem Leben kennenlernen, oder besser noch: mit ihnen zusammenarbeiten. Denn mit jemandem zusammenzuarbeiten ist in meinen Augen eine ganz besonders tolle Art des Kennenlernens. Schließlich erschafft man etwas gemeinsam, das einem anschließend niemand mehr wegnehmen kann. Aus dem gleichen Grund haben wir uns geradezu nach einer Zusammenarbeit mit Dusty Springfield und Liza Minelli gesehnt. Und beides hat ja bekanntlich geklappt.




Wie sehr erzwingen Sie solche Kollaborationen?




Lowe: Den Song ‘Being Boring’ haben wir gewissermaßen für Bruce Weber geschrieben. Wir imaginierten uns typische Weber-Bilder, als wir den Song komponierten. Genauso verhielt es sich mit Derek Jarman. Neil und ich hatten uns seinen Film ‘Caravaggio’ angesehen und dachten beide: Der Typ macht unser nächstes Video. Also haben wir ‘It’s a Sin’ auch ein bisschen für Derek geschrieben.




Also gehen das Visuelle und die Musik doch Hand in Hand.




Lowe: In diesen beiden Fällen: ja. Aber das war keine typische Arbeitsweise, das waren ein Stück weit auch Hommagen.




Haben Sie Ihre und Neils Karriere als Fügung des Schicksals gesehen?




Lowe: Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir auf einem für uns angelegten Pfad gewandelt sind. Alles passierte einfach. Wir haben zwar jeden unserer Schritte mit Bedacht und wohlüberlegt gesetzt, aber dann passierten die Dinge einfach. Also war es wohl Schicksal.




Liegt der Erfolg der Pet Shop Boys auch darin begründet, dass Sie von Anfang an tolles Design und einprägsame Jahrmarktmusik haben aufeinanderprallen lassen?




Lowe: Wir nennen es Eislaufmusik. Man kann zu den Pet Shop Boys gut im Kreis fahren.




Aber hatten Sie auch diesen Aspekt geplant?




Lowe: Wir hatten zu keinem Zeitpunkt Angst vor Melodien. Wir waren immer der Meinung, dass unsere Musik zugänglich sein muss. Uns war wichtig, dass die Pet Shop Boys auf einem emotionalen Level funktionieren. Im Autoskooter, beim Küssen, im Radio. Ich sage nicht, dass es einfach ist, einfache Melodien zu schreiben, im Gegenteil. Und natürlich finden sich auch komplexe Akkordwechsel in unseren Songs, nur dass der Hörer gar nicht weiß, wie schwer die sind. Und während wir immer sehr viel Wert darauf gelegt haben, die Musik zugänglich zu halten, hat Neil daran gefeilt, dass eine Liebesgeschichte, die er in einem Song erzählt, das genaue Gegenteil ist. So bekamen wir einen Kontrast hin, der bis heute unser Markenzeichen ist.




Ihr neues Album ‘Yes’ haben Sie von dem Xenomania-Team produzieren lassen, das schon Hits für Cher und Kylie Minogue geschrieben hat. Stimmt es, dass man dort versucht, Musik auf ihre Hitqualität hin zu optimieren?
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Lowe: Ja, Brian Higgins, der Gründer von Xenomania, ist der festen Überzeugung, dass man Hits erzwingen kann. Nun, wir werden sehen, ob er recht behält. Bei Xenomania arbeiten viele Leute den ganzen Tag an Musik – und am Abend beurteilt Brian dann, ob an einem Song weitergearbeitet wird.




Geht es Ihnen immer noch um Hits?




Lowe: Ich sehe es sportlich: Es ist die Königsdisziplin im Pop, über die Jahre hinweg immer wieder einen Hit zu landen, und es erfordert enorme Disziplin. Aber wir wollen die Serie nicht abreißen lassen.

Taken from: Welt ONLINE
Interviewer: Max Dax